DIE ZWEI WAHRHEITSEBENEN
(von S.H.dem DALAI LAMA)
Die heutige Welt ist in einem solchen Ausmaá in Konflikte und Leid,
verstrickt daá jedermann Sehnsucht nach Frieden und Glck versprt. Diese
Sehnsucht hat leider h„ufig dazu gefhrt, daá sich viele in „uáerliches
Vergngen verloren haben. Aber es gibt auch einige tiefsinnigere Menschen,
die mit dem, was man normalerweise sehen und erfahren kann, nicht zufrieden
sind und deshalb weiter denken und nach wahrhaftigem Glck suchen. Je mehr
Fortschritt wir in materieller Hinsicht erzielen und je umfassender wir
unsere allt„glichen Bedrfnisse befriedeigen k”nnen, desto intensiver wird
der Mensch auch nach der Wahrheit fragen, denn er sprt, daá materieller
Fortschritt allein keine Zufriedenheit gew„hren kann. Ich bin in der Tat
davon berzeugt, daá die Suche nach Wahrheit zunehemen wird.
In der Vergangenheit haben viele gelehrte Meister oft sehr unterschiedliche
Wege gewiesen, damit Menschen zur Wahrheit finden k”nnen. Einer von ihnen ist
der Buddha. Mein Studium des Buddhismus hat mich zu der šberzeugung gebracht,
daá die letztgltige Wahrheit, auf die alle Religionen hindeuten, dieselbe
ist, auch wenn die verschiedenen Religionen unterschiedliche Namen, Formen
und Denksysteme darstellen.
Im Buddhismus unterscheiden wir eine relative von einer absoluten Wahrheits-
ebene. Unter dem Gesichtspunkt der absoluten Wahrheit ist alles, was wir in
unserem gew”hnlichen t„glichen Leben fhlen und erfahren, eine T„uschung.
Unter den verschiedenen Formen der T„uschung ist der Sinn der Trennung
zwischen einem selbst und den anderen die schlimmste, da sie nichts als
Unbehagen auf beiden Seiten erzeugt. Wenn wir ber die letztgltige
absolute Wahrheit meditieren und sie erfahren, werden die Verunreinigungen
unseres Bewuátseins beseitigt, und damit verschwindet auch der Sinn fr diese
Trennung. Dies hilft, wahrhaftige Liebe freinander zu entwickeln. Die Suche
nach der absoluten Wahrheit ist aus diesem Grunde lebenswichtig.
Wenn wir die absolute Wahrheit trotz allen Suchens nicht finden, so liegt es
an unserem Unverm”gen. Die letztgltige Wahrheit existiert. Wenn wir tief
genug nachdenken und sorgf„ltig prfen, werden wir erkennen, daá unsere
Existenz in der letztgltigen Wahrheit grndet.
Um ein Beispiel anzufhren: Ich spreche zu Ihnen, und Sie h”ren zu. Im all-
gemeinen stehen wir unter dem Eindruck, daá es einen Sprecher, eine H”rer-
schaft und einen Klang der Worte, die ge„uáert werden, gibt.
Wenn ich aber nach meinem Ich suche, werde ich es nicht finden, und wenn Sie
nach Ihrem Ich suchen, finden Sie auch nichts. Das ist die Ebene der
absoluten Wahrheit. Weder Sprecher, noch H”rerschaft, noch Klang k”nnen ge-
funden werden All diese Dinge sind leer in Bezug auf auf inh„rente Existenz,
leer wie der leere Raum. Sie sind aber auch nicht v”llig nichtexistent. Sie
mssen existieren, denn wir sind ja in der Lage sie wahrzunehmen.
Was ich gerade zu Ihnen sage, wird von Ihnen geh”rt, und Sie denken darber
nach. Meine Rede bringt eine bestimmte Wirkung hervor. Suchen wir aber
analytisch nach dieser Ursache und dieser Wirkung, so k”nnen wir sie nicht
finden. Dieses "Geheimnis" deutet auf die zwei Wahrheitsebenen hin.
Alles, dessen Existenz von uns durch direkte Erfahrung wahrgenommen wird,
kann als zur relativen Wahrheit zugeh”hrig bezeichnet werden.
Aber unter dem Gesichtspunkt der absoluten Wahrheit existiert weder der
Sucher noch das gesuchte Objekt. Die absolute Wahrheit ist leer, jenseits
jeder einengenden Form, Komplexit„t und Schwierigkeit. Wenn wir das einmal
erkannt haben, k”nnen wir wahren geistigen Frieden erlangen.
Es ist meine Hoffnung, daá wir im gegenseitigen Austausch mehr ber diese
Dinge erkennen werden. Dann werden wir in einer Welt, die aufgrund ver-
besserter Kommunikation vermittels technischen Fortschritts t„glich kleiner
wird, wahren geistigen Frieden erlangen k”nnen.
aus: "Die Weisheit des Herzens"